Samstag, 20. Oktober 2012

Der Scheintod

Lebendig begraben zu werden ist ohne Frage eine grässliche Vorstellung.  Angeblich grausige Funde in Grüften und von innen zerkratze Särge gefallener US-Soldaten tragen auch nicht gerade dazu bei diese Art von Horror als völlig unbegründet erscheinen zu lassen.

Und Berichte über irrtümliche Ausstellungen von Todesbescheinigungen sowohl in der Fachpresse wie auch in den Medien sind auch nicht eben selten. Fakt ist: Vorkommnisse dieser Art sind in der Regel auf eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht zurückzuführen. In manchen Fällen wirft der Leichenschauarzt eben nur einen flüchtigen Blick auf die leblose Person und nimmt keinerlei Untersuchung vor. Ebenso kommt es vor, dass die Todesbescheinigung nach den Auskünften der Angehörigen ausgestellt wird, ohne die im Nebenzimmer liegende Person überhaupt untersucht zu haben. Schließlich hat man hat es eilig und man kennt sich ja schon seit Jahrzehnten.

Doch die Möglichkeit, dass unter bestimmten Bedingungen alle Lebenserscheinungen nur zum Schein auf ein Minimum reduziert sein können, ist leider real. Äußerlich lassen sich in solchen Fällen Atmung, Puls, Körperwärme und Reflexe kaum noch wahrnehmen, und es liegt stattdessen nur eine tiefe, unter Umständen langandauernde Bewusstlosigkeit vor.
Für diesen Zustand, bei dem die Unterscheidung zwischen Leben und Tod außerordentlich erschwert ist, wurde der Begriff Scheintod geprägt.


Die Wiederbelebung

Gelingt es, in solchen Fällen durch sofort eingeleitete fachmännische Behandlungsmaßnahmen die volle Wiederherstellung aller Lebensfunktionen zu erreichen, dann hat der „Untote“ aber wirklich mehr Glück als Verstand gehabt. Ereignisse dieser Art führen natürlich unweigerlich zu Geschichten, in denen dann über die Erweckung eines Toten berichtet wird, doch in Wirklichkeit handelte es sich um einen tief Bewusstlosen.

Die medizinischen Fachausdrücke „vita reducta“ und „vita minima“ besagen, dass es sich beim Phänomen des Scheintods um einen auf das äußerste verminderten Zustand menschlichen Lebens handelt. Zur zweifelsfreien Feststellung von Lebenszeichen in diesen Situationen sind daher apparative Untersuchungen, wie Ableitung von Hirn- und Herzströmen unbedingt notwendig.

Außerhalb des Krankenhauses hat die Definition des Todes als Hirntod aber praktisch keinerlei Bedeutung. Überwiegend basiert die Todesfeststellung auf den Nachweis des klinischen Todes mit irreversiblem Atem- und Herzstillstand. Entscheidendes Kriterium für die Irreversibilität ist das Sichtbarwerden sicherer Todeszeichen. Im Allgemeinen sind frühestens 15 bis 20 Minuten nach dem Todeseintritt die ersten Totenflecke zu erwarten, alle anderen Todeszeichen erst erheblich später. Dabei bieten Totenstarre und späte Leichenveränderungen dieselbe Zuverlässigkeit für die sichere Feststellung des Todes.
Das gilt ebenfalls für schwere, äußerlich erkennbare Verletzungen, wie vollständige Schädelzertrümmerung, Abtrennung des Kopfes oder Rumpfdurchtrennung, die ein Weiterleben ausschließen. Das weiß allerdings jeder.

Im Folgenden aber nun die fünf Anzeichen des Todes, welche weder einzeln noch kombiniert das Ableben eines Menschen zweifelsfrei beweisen.

1) Abkühlung (nicht gleichzusetzen mit Leichenkälte),
2) Reflexlosigkeit, Reaktionslosigkeit der Pupillen,
3) Muskelschlaffheit,
4) Hautblässe,
5) Pulslosigkeit und Atemstillstand.

Diese Erscheinungen werden daher unsichere Zeichen des Todes genannt.

 Die Lebensprobe im Mittelalter

Durch sogenannte Lebensproben wollte man früher als es noch keine Apparatemedizin gab die Beweiskraft der unsicheren Todeszeichen erhöhen. Um den Atemstillstand nachzuweisen wurde empfohlen, einen Spiegel vor Mund und Nase zu halten. Blieb ein Beschlagen aus, so meinte man damit den Beweis für den Atemstillstand erbracht zu haben. Zum selben Zweck wurde eine Feder vorgehalten, Seifenschaum aufgebracht oder ein randvoll gefülltes Wasserglas auf de Brustkorb gestellt. Das Erliegen der Herz-Kreislauf-Funktion sollte beispielsweise durch die Siegellackprobe festgestellt werden.  Man tropfte heißen Siegellack auf die Haut und beobachtete, ob sich eine Hautrötung entwickelte. Doch diese Methoden waren natürlich unsicher. Die Gefahr, dass der Scheintod (vita minima) nicht erkannt wurde, wurde durch sämtliche Lebensproben die zur zweifelsfreien Feststellung des Todes führen sollten in keiner Weise beseitigt.

Die große Angst vor dem Lebendig-Begrabenwerden im Zustand des Scheintodes vor allem im Mittelalter resultierte nicht zuletzt auch aus den Fehldeutungen von sechs bekannten Leichenerscheinungen die auf den Friedhöfen jener Zeit mitunter häufiger zu beobachten waren. Die sich nach der Beisetzung zersetzenden und oft wieder ans Tageslicht gelangten Leichen bewegten sich, vergossen blutähnliche Flüssigkeiten, schmatzten und knirschten mit den Zähnen, Körperhaare und Nägel wuchsen angeblich weiter. Doch der Zerfallsprozess eines menschlichen Körpers beinhaltet eben auch diese Erscheinungen.

1) Der Tote „schwitzt“ – in Wirklichkeit Kondenswasser auf der abgekühlten Leiche.

2) Die Lage der Leiche verändert sich – in Wirklichkeit verursacht durch Eintreten und Lösen der Totenstarre, später durch Fäulnis.

3) „Totenlaute“ (Stöhnen oder Seufzer) sind zu hören – in Wirklichkeit eine Leichenerscheinung, bedingt durch das Hochrücken des Zwerchfells infolge Fäulnisgasansammlung im Bauchraum mit Entweichen von Luft durch die Stimmritze.

4) Die Aufrichtung des männlichen Gliedes – in Wirklichkeit Fäulnisgasansammlung im Gewebe der äußeren Geschlechtsorgane.

5) Die Leiche lässt eine „ganz frische Haut“ und „neue Nägel“ erkennen – in Wirklichkeit Ablösung der Oberhaut zusammen mit den Nägeln infolge Fäulnis, so dass die rosig und feucht wirkende Lederhaut bzw. die Nagelbetten freiliegen.

6) Eine verstorbene Schwangere „gebärt“ im Sarg ihr Kind – in Wirklichkeit kommt eine sogenannte Sarggeburt durch einen starken Fäulnisgasdruck im Bauchraum zustande, der ebenso einen Kotabgang an der Leiche bewirken kann.

Bei all den Schauerlichkeiten bleibt im Grunde nur die Hoffnung übrig, dass heutzutage der allgemeine medizinische Kenntnisstand des örtlichen Leichenbeschauers hinsichtlich des Scheintodes höher einzuschätzen ist, als die Angst selbst einmal zum Opfer einer nicht vorschriftsmäßig durchgeführten Leichenschau zu werden. Zudem finde ich persönlich, dass das islamische Gebot (Tagesgenaue Bestattung) noch am Sterbetag zu bestatten, ein ungleich höheres Risiko in sich birgt lebendig begraben zu werden, als wenn man mindestens 48 Stunden wartet, wie in den meisten europäischen Ländern gesetzlich vorgeschrieben.