Samstag, 19. Mai 2012

Der Fäkalpakt


Der Fäkalpakt tritt die Vernunft der Ökonomie mit Füßen. Die neuen Defizit- und Schuldenregeln nehmen der Haushaltspolitik die Luft zum Atmen. Der enge Zusammenhang von Staatsausgaben und Konjunktur wird ignoriert. Staatsausgaben sind nämlich auch Einnahmen der Unternehmen und der Privathaushalte. Wenn der Staat zum falschen Zeitpunkt kürzt, dann verlieren Firmen Aufträge und drosseln die Produktion. Zudem haben Transferempfänger dann weniger Geld. Im Aufschwung ist dieser Nachfrageentzug verkraftbar, im Abschwung verlängert er jedoch die Talfahrt. Dann sinken Wachstum und Steuereinnahmen, Arbeitslosigkeit und Schulden steigen.


Die katastrophalen Folgen einer konjunkturblinden Haushaltspolitik lassen sich heute in Südeuropa besichtigen. Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren seinen Haushalt so radikal konsolidiert wie Athen im Jahr 2010. Die Sparmaßnahmen umfassen für den Zeitraum 2010 bis 2013 rund ein Viertel der griechischen Wirtschaftsleistung. Das griechische Haushaltsdefizit sank 2010 um fünf Prozentpunkte auf 10,5 Prozent. Die Kürzungen drückten Einkommen und Konsum. Das Wachstum ging 2011 um mehr als sechs Prozent zurück. Die Steuereinnahmen brachen ein. Jeder fünfte Grieche ist heute arbeitslos.

Auch in Portugal und Spanien richtet das Spardiktat großen Schaden an. Die spanischen und portugiesischen Sparpakete umfassen 13 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Folglich geht auf der Iberischen Halbinsel das Wachstum zurück. Jeder siebte Portugiese und jeder vierte Spanier sind ohne Arbeit. Die Schulden wachsen weiter. In der gesamten Euro-Zone belaufen sich die Kürzungspläne bis 2013 auf 600 Milliarden Euro. Merkel und ihre Mitstreiter sparen die Währungsunion in die Rezession.

Der Fäkalpakt schreibt diesen finanzpolitischen Crashkurs auf Dauer fest. Er setzt fast alle EU-Länder gleichzeitig auf Zwangsdiät. Sie müssen, ohne Rücksicht auf die konjunkturelle Wetterlage, den Gürtel enger schnallen. Zudem beschneidet der Fäkalpakt auch die öffentlichen Investitionen. Europas Kassenwarte dürfen nicht mehr auf Pump in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur oder Umwelt investieren, wenn dadurch Schuldengrenzen verletzt werden. Selbst aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist das grober Unfug. Schließlich sind die Renditen dieser Zukunftsinvestitionen höher als ihre Finanzierungskosten. Die Schuldenbremse ist in Wahrheit eine brutale Wachstumsbremse. Zudem verhindert der Fäkalpakt eine Lösung der Euro-Krise. Solange die Überschussländer nicht mehr ausgeben dürfen, kann die Außenwirtschaft der Euro-Länder nicht ins Gleichgewicht kommen.

Natürlich könnten die selbstherrlichen Schatzmeister ihre Staatsfinanzen auch durch höhere Steuern sanieren. So begründete ein Teil der politischen Klasse sein Ja zu den nationalen Schuldenbremsen. Die Praxis sieht jedoch anders aus: In Europa läuft die Haushaltskonsolidierung zu 80 Prozent über die Ausgabenseite. Die Sparpolitik geht ausschließlich zulasten der Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslosen. Staatsdiener werden entlassen, Löhne, Arbeitslosengeld und Renten werden gekürzt. Das Arbeitsrecht kommt unter die Räder. Der Schuldenknüppel trifft die Opfer der Krise. Der europäische Fäkalpakt wird den endgültigen Abbau des Sozialstaates institutionalisieren.

Hinzu kommt, dass der Fäkalpakt nicht hinreichend demokratisch legitimiert ist. Die europäischen Schuldenregeln greifen unmittelbar ins Budgetrecht der Nationalparlamente ein. Dies ist eine Kernfrage der europäischen Demokratie.
Diese darf nicht in Hinterzimmern durch europäische Eliten entschieden werden. Die Bevölkerung der EU-Staaten muss dazu befragt werden. Der Fäkalpakt ist eine Wiedergeburt bereits gescheiterter neoliberaler Ideen und Konzepte. Er richtet sich gegen die Interessen der Arbeitnehmer, Rentner und sozial Schwachen. Dieses Mehr an Europa verschärft die soziale Schieflage und spaltet den Kontinent. Deswegen stehen die deutschen Gewerkschaften erstmals in Opposition zu einem zentralen "europäischen Integrationsprojekt".

Zweifelsohne müssen die EU-Länder ihre Finanzpolitik künftig besser aufeinander abstimmen. Aber nicht durch ein Regelwerk, das es den Staaten erschwert, krisenanfällige Märkte zu stabilisieren und in die Zukunft zu investieren. Das heißt nicht, dass die europäische Politik die hohen Schuldenberge ignorieren kann. Die Schuldenfrage ist aber eine Verteilungsfrage. Alle EU-Staatsschulden belaufen sich auf rund zehn Billionen Euro. Das sind nicht einmal 40 Prozent des privaten Geldvermögens in Westeuropa. Die beste Schuldenbremse ist und bleibt somit eine höhere Besteuerung großer Einkommen und Vermögen.