Dienstag, 1. März 2011

Der Gottesacker

Ein Abend im November. Frau Ludovika Iglhaut machte sich auf den Weg zum nahe gelegenen Friedhof. Sie trug einen langen grünen Lodenmantel und auf dem Kopf ein Hütchen, welches sogar Queen Elizabeth alle Ehre gemacht hätte. Es war gegen vier Uhr nachmittags, als sie durch das große schmiedeiserne Eingangstor schritt und den Gottesacker betrat. Zielstrebig ging sie nach rechts in Richtung Pius-Denkmal.


Es herrschte völlige Windstille. Hoch oben in den Wipfeln der teilweise nur noch spärlich belaubten knorrigen Bäume saßen zahlreiche Krähen. Die diesjährigen Herbststürme hatten ihr alljährliches Entlaubungswerk fast schon zur Gänze verrichtet. Nach etwa fünfzig Metern wurde Frau Iglhaut plötzlich und ohne jede Vorwarnung Zeugin eines abstoßenden Naturschauspiels.

Drei offensichtlich mordlüsterne Krähen hatten sich einen wunderschönen Buntspecht als Opfer auserkoren. Der arme Specht lag mit weit ausgebreiteten Schwingen rücklings auf dem Boden, während das Krähen-Trio gnadenlos ihre langen Schnäbel in seine gelbe Brust jagte. Der wohl etwas zu schön geratene Buntspecht lag am Ende dieses infernalischen Aktes tot zwischen zwei vergammelten Gräbern. Die Mörder hatten ihr grauenhaftes Handwerk mit unglaublicher Präzision und großem Eifer verrichtet. Das herrliche Gefieder des Buntspechtes war am Ende dieser todbringenden Krähenattacke über und über mit schäumenden Blut besudelt. Sichtlich angewidert von diesem schrecklichen Ereignis schritt Frau Iglhaut mit forscherem Schritt als vorher weiter, so als wolle sie damit das grausame Ereignis ungeschehen machen. Ihr Weg führte sie nun wie immer entlang einer kleinen Allee, in der vorwiegend Ehrfurcht einflößende Gräber aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die epochale Vergangenheit repräsentierten.

Es war einer von diesen Novemberabenden, in dessen Verlauf man sich vielleicht in einer etwas besinnlicheren oder auch etwas nachdenklicheren Stimmung befindet, als gewöhnlich. Nachdem Frau Iglhaut nun rechter Hand die Aussegnungshalle passiert hatte, ging sie weiter Richtung Krieger Denkmal.
Zu ihrer linken Seite bemerkte sie plötzlich aus dem Augenwinkel heraus eine flüchtige Bewegung. Sie wandte ihren Blick daraufhin in diese Richtung und sah gerade noch, wie ein kleines äußerst flinkes Eichkätzchen fluchtartig einen Baum hoch jagte, so als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter dem kleinen Nager her. Frau Iglhaut blickte daraufhin instinktiv um sich, doch niemand war zu sehen. Ungewöhnlich. Normalerweise war um diese Zeit eigentlich immer wer anzutreffen.
Zum Beispiel Frau Wagner eine uralte Chirurgenwitwe mit der sie immer mal ein paar Worte zu wechseln pflegte. Oder etwa der alte Herr Grombach, der nicht einmal davor zurückschreckte, auch bei Schnee und Eis das Grab seiner Frau aufzusuchen. Doch heute war niemand zu sehen. Eine merkwürdige Stille breitete sich aus, die immer wieder nur von dem elenden Gekrächze der schwarzen Krähen unterbrochen wurde.

Das steinerne nicht enden wollende Meer aus Grabsteinen, Monumenten und Skulpturen bewirkte bei Frau Iglhaut immer wieder so manch seltsame Gefühlsregung. Zugleich hatte das steinerne Meer aber auch durchaus etwas Beruhigendes. Es war dies unter anderem der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit, welcher Frau Iglhaut allerdings in keiner Weise beunruhigte. Sie war eine Frau von zweiundsechzig Jahren die fest und unerschütterlich in ihrem christlichen Glauben ruhte, der ihr ja schließlich auch eine glanzvolle Wiederauferstehung verhieß.

Das Licht auf den Baumstämmen war mittlerweile zu einem zarten Grau verblasst. Die rostigen Rufe der Krähenarmada, die hier innerhalb des Friedhofs anscheinend eine Art ständige und natürliche Totenwache hielt, klang zusehends bedrohlicher und nahm stetig zu. Am Krieger Denkmal angekommen ging Frau Iglhaut wieder nach rechts, nämlich in die Sektion 8a wo ihr Mann, den sie vor fünf Jahren durch einen tragischen Autounfall verloren hatte, in einem Familiengrab ruhte.

In einer Entfernung von etwa zwanzig Metern sah sie dann plötzlich am rechten Wegesrand eine menschliche Gestalt liegen. Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte und als sie näher kam, erkannte sie, dass es sich dabei um eine am Boden liegende Frau handelte. Voller Entsetzen blieb Frau Iglhaut plötzlich wie angewurzelt stehen, um dann aber instinktiv einen Schritt zurück zu weichen. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte sie beinahe selbst zu einer Salzsäure. Einen Augenblick lang schien es ihr, als wäre entweder ihr Herz stehen geblieben oder aber das Blut in ihren Adern gefroren. Sie starrte geschockt und ungläubig zugleich auf die Leiche einer am Boden liegenden jungen Frau. Das bleiche Gesicht war nach oben gekehrt. Die rechte Hand weit ausgestreckt und in ein Grasbüschel gekrallt. Die Kleidung der Toten war in totaler Unordnung. Das lange blonde Haar verfilzt und voll von geronnenem Blut. Der größere Teil der Stirn war weggerissen und aus dem zackigen Loch quoll das Gehirn heraus, hing über der Schläfe, eine schaumige graue Masse, bekrönt von zusammengeballten roten Bläschen. Blankes Entsetzen spiegelte sich nun in den gütigen grauen Augen von Frau Iglhaut und kalter Schweiß trat auf ihre niedrige Stirn. Der mit jedem Augenblick dichter werdende Nebel zog sich nun wie ein sichtbares Verhängnis über ihr zusammen. Sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund und stammelte: “Oh Gott… das …das… kann doch alles nicht wahr sein…!”

Verzweifelt blickte sie nun Hilfe suchend nach allen Seiten um sich. Doch niemand war zu sehen. Keine Menschenseele, außer den hoch oben in den lichten Baumkronen sitzenden Krähen, die der grausigen Szenerie aufmerksam zu folgen schienen. Doch halt! Da links im Schatten eines mächtigen weißen Marmor Grabsteins konnten ihre weit aufgerissen Augen plötzlich so etwas wie eine Bewegung ausmachen. Für einen Augenblick glaubte sie die schemenhaften Umrisse einer schwarzen Silhouette erkannt zu haben. Doch als sie ihren Blick in diese Richtung weiter fokussierte, konnte sie nichts mehr erkennen, außer ein einigen Zweigen, die lautlos an einem Strauch auf und abfederten.

Ihre Augen durchbohrten nun die bereits weit voran geschrittene Dämmerung in Richtung des Strauches, mit den immer noch leicht nachwippenden Zweigen. In ihr kam nun das sichere Gefühl hoch, dass sie hier nicht alleine war. Sie meinte förmlich zu spüren, wie sie beobachtet wurde. Hier musste also noch jemand sein. Panik überkam Frau Iglhaut, während sie mit der rechten Hand ihre Handtasche fester umklammerte. War der Mörder etwa noch hier?

Ihr Blick ging nun wieder zu der Leiche der jungen Frau. Sie konnte es einfach nicht fassen. Das kalte Grauen kam in ihr hoch und sie fasste sich mit der linken Hand an den Kehlkopf. Aus der Richtung des weißen Grabsteins hörte sie plötzlich Blätter rascheln und heruntergefallene Zweige knacken. Als Frau Iglhaut sich schließlich mit vor Angst aussetzendem Herzen wieder in diese Richtung wandte, aus der das Geräusch gekommen war, konnte sie nun deutlich eine schwarze Kapuzengestalt erkennen. Bleierne Stille. Seltsamerweise zogen es sogar die Krähen vor zu schweigen. Sie fokussierte nun wie gebannt die schwarze Gestalt, welche immer noch unverändert in ihrer gesamten Bedrohlichkeit wie versteinert an der gleichen Stelle stand.

Doch jählings nahm sie nun all ihren Mut zusammen. Mit zitternder Hand griff sie in ihre Handtasche. Sobald Ihre rechte Hand das silberne Kreuz umschloss, das sie immer bei sich trug, wurde sie sofort ruhiger. Die schemenhaften Umrisse der Kapuzengestalt nahmen plötzlich wieder deutlichere Konturen an, und es schien, als würde die Figur den linken Arm heben. Schließlich begann die seltsame Erscheinung mit schweren Schritten auf Frau Iglhaut zu zugehen. Noch war die Gestalt etwa zehn Meter entfernt. Der Abstand verringerte sich allerdings zusehends und mit brutaler Realität. Frau Iglhaut warf noch einmal kurz einen Blick auf die neben ihr am Boden liegende Leiche, starrte dann wieder voller Entsetzen auf die schwarze Gestalt, holte schließlich das Kruzifix aus der Tasche und hielt es mit beiden Händen fest umklammert in Richtung des unheimlichen Fremden.
Dazu schrie sie verzweifelt aus Leibeskräften:
“Weiche von mir Satan! Weiche!”

Für den Bruchteil einer Sekunde schien das Kreuz tatsächlich im Nebel zu erglühen und bewirkte augenblicklich, dass die Person wie versteinert stehen blieb. Frau Iglhaut wiederholte daraufhin ihren Ausruf, während sie weiterhin mit beiden Händen das mittlerweile rot glühende Kreuz verzweifelt in die Höhe hielt. Die schwarze Gestalt rannte schließlich auf und davon. Anschließend warf Frau Iglhaut noch einen ängstlichen Blick auf den entsetzlich entstellten Leichnam der am Boden liegenden jungen Frau und lief dann, das nackte Grauen im Nacken, schreiend und ohne sich noch einmal umzudrehen, weg vom Ort dieses furchtbaren Geschehens.

Am nächsten Morgen fanden Friedhofsarbeiter bei Aufräumungsarbeiten den Leichnam einer jungen Frau. Zudem entdeckten sie die Leiche eines jungen Mannes, welcher sich allem Anschein nach, mittels eines Strickes, selbst vom Leben zum Tode befördert hatte.